Auf das heutige Buch bin ich eher zufällig gestoßen….  Ich wollte ein Buch von William Morris „Kunde von Nirgendwo“ lesen. Auf der Webseite des Verlages Golkonda habe ich die Information entdeckt, dass das Werk von William Morris eine Antwort oder eine Art „Gegendarstellung“ auf das Buch „Rückblick aus dem Jahre 2000“ von Edward Bellamy ist. Also musste der Herr Bellamy zuerst gelesen werden.

William Morris kennt Ihr schon, wenn ihr gelegentlich meine Blogs besucht. Das ist der Künstler, der die Blumenranken entworfen hat, die den Hintergrund meiner Blogs verschönern, sowohl hier als auch beim „Beauty Diary“. Seine Kunst liebe ich sehr, seine Bücher kenne ich bisher nicht, das werde ich aber demnächst ändern.

Zuerst widme ich mich Herrn Bellamy, den ich bis dato noch nicht kannte, auch das Buch „Rückblick aus dem Jahre 2000“ war mir bisher völlig unbekannt. Das Buch ist im Jahre 1887 geschrieben worden und zeigt eine Utopie, wie das Jahr 2000 aussehen könnte. Das Werk wurde schnell zu einem Bestseller der viktorianischen Zeit. Innerhalb kurzer Zeit wurde es zu einem der meistverkauften Bücher seiner Zeit, in 3 Jahren wurde es in 15 Sprachen übersetzt. Heute, 125 Jahre später ist das Buch nahezu vergessen – solchen Büchern widme ich doch gerne etwas Aufmerksamkeit.
Der Autor:
Edward Bellamy (1850-1898) wurde in Chicopee, Massachusetts geboren und ist auch dort gestorben. Er war ein Kind eines babtistischen Pfarrers, wuchs daher in einem sehr christlich geprägten Elternhaus auf. Schon sehr früh war er Zeuge von grausamer Kinderarbeit und unmenschlichen Arbeitsbedingungen, was vermutlich sein Werk nachhaltig beeinflusst hat.
Handlung: 
Julian West, ein reicher junger Bostoner, dessen einziger Lebensinhalt ist, von dem Wohlstand seiner Vorfahren zu leben, hat nur eine Sorge, sein Hausbau gerät wegen der zahlreichen Streiks ins stocken. Julian West ist mit der bezaubernden und ebenfalls sehr wohlhabenden Edith Bartlett verlobt und nur noch die Fertigstellung des Hauses trennt sie vom gemeinsamen Eheglück. Der Hauptprotagonist wird aber von Schlaflosigkeit geplagt, daher holt er sich immer wieder Unterstützung des Magnetiseurs Dr. Pillsbury (der Namensgeber war hier vermutlich der amerikanische Unternehmer), der ihn nachts in einem schalldichten Keller in  eine Art hypnotischen Schlaf versetzt und morgens wieder erweckt. Doch eines Nachts brennt das Haus ab, die Bewohner sterben, nur Julian West überlebt schlafend im feuerfesten Keller – er wacht erst 113 Jahre später wieder auf, in einer völlig veränderten Welt. Er wird gefunden im Haus des Arztes, Dr. Leete, der für ihn ein Freund und Begleiter wird und ihm die Ökonomie der Zukunft erklärt. Schnell entwickelt sich auch eine Liebesgeschichte zwischen Julian und der Tochter seines Gastgebers, die zufällig auch Edith heißt.
Zukunftsromane kenne ich bisher nur aus der Science-Fiction-Sparte. Dieses Buch ist anders, es erzählt fast nichts über technische Entwicklungen der Zukunft, es berichtet hauptsächlich über die wirtschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen. Während das 19. Jahrhundert von sozialer Ungerechtigkeit, extremer Kluft zwischen Reichtum und Armut, Ausbeutung und fortwährenden Arbeitskämpfen und Streiks gekennzeichnet war, ist die Welt im Jahre 2000 das Gegenteil davon. Der Kapitalismus ist ausgerottet und die Menschen leben in einer ganz neuen Wirtschaftsordnung.
Edward Bellamy beschreibt die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wie folgt:

„Die damalige Gesellschaft glich einer riesigen Kutsche, vor die die große Masse gespannt war und die von dieser auf einer holperigen und staubigen Straße mühsam vorwärtsgeschleppt wurde. Der Hunger war Kutscher und er duldete kein Verschnaufen. Aber trotzdem ging es nur sehr langsam vorwärts. Obwohl es so hart war auf dem beschwerlichen Weg den Wagen fortzuschleppen, war dieser doch mit Passagieren besetzt, die niemals abstiegen, mochte die Straße noch so steil ansteigen. Die Sitze auf dem Wagen waren sehr luftig und bequem. Unbelästigt durch den Staub konnten ihre Inhaber sich mit Muße an der Landschaft ergötzen. Natürlich waren die Sitzplätze sehr begehrt und beim Wettbewerb um sie ging es heiß her. Jeder hielt es für das Hauptziel seines Lebens, sich selbst einen Sitzplatz in der Kutsche zu sichern und ihn später seinen Kindern zu hinterlassen. (…) Die Plätze waren unsicher und angenehm. Bei jedem plötzlichen Sturz der Kutsche wurden Personen aus ihr herausgeschleudert und stürzten zu Boden. Einmal gefallen, waren sie sofort gezwungen, im Geschirr zu gehen und das Fuhrwerk vorwärtszuschleppen, in dem sie wenige Minuten früher so angenehm dahinkutschiert waren. (…)“
 
Die Welt im Jahr 2000 ist das Gegenteil von der Beschreibung, es ist irgendwie der perfekte Kommunismus, irgendwie aber auch nicht.
Es gibt in dieser Welt keinen Kapitalismus, da es nur ein Unternehmen gibt, die Nation. Alle Menschen arbeiten für sie und alle werden gleich entlohnt, egal, welche Arbeit sie machen. Der Lohnt ermöglicht allen Menschen, im Wohlstand zu leben, Armut und Reichtum gibt es nicht mehr. In den jeweiligen Kapiteln wird erklärt, wie diese Wirtschaftsordnung funktioniert und was getan werden muss, damit sie funktioniert. Alle Einwände und Bedenken werden mit überzeugenden Argumenten entkräftet.
Es gibt eine allgemeine Arbeitspflicht, die alle Menschen im Alter zwischen 21 und 45 Jahren ausüben müssen. Vor dem 21. Lebensjahr widmen sich alle Menschen der Bildung und Erziehung, nach dem 45. Lebensjahr kommt die Ruhephase, in der die Menschen die Annehmlichkeiten des Lebens genießen können.
Die ersten 3 Jahre im Arbeitsleben gelten die Menschen als ungelernt und müssen jede Arbeit verrichten, dann kommt erst die eigentliche Berufswahl. Dabei wird sehr nach Neigungen und Interessen der Menschen geschaut, schon im Kindesalter werden die Talente herausgearbeitet und immer mehr entwickelt. Und schon im Kindesalter beginnen die Menschen die verschiedenen Berufe kennen zu lernen, in der Schule lernen sie alle Wirtschaftszweige kennen, denn nur so wird vermieden, dass die Menschen die falsche Berufswahl treffen. Die Berufswahl ist ein besonders wichtiges Thema, da die Arbeit zufrieden macht und der Mensch sich durch die Arbeit identifiziert. (Für mich war das Thema Berufswahl und Arbeitsteilung besonders interessant – berufsbedingt).
Natürlich gibt es auch besonders schwere Arbeiten oder besonders unbeliebte Berufe, die werden aber durch die Arbeitszeiten reguliert, indem die Menschen weniger Stunden am Tag arbeiten. Es ist eine Welt ohne Kaufen und Verkaufen, ohne Banken. Es existieren Kaufhäuser, die aber nicht privat sondern staatlich sind. Da jeder über ein Einkommen verfügt, kann sich jeder alles kaufen, was er möchte. Jeder Bürger hat ausreichend Kredit und eine Kreditkarte, über die er verfügen kann.

Und wie hat mir das Buch gefallen? 
Das erste, was mir als sehr angenehm aufgefallen ist, ist die leicht zu lesende Sprache und die spannende Erzählweise. Obwohl es oft eine trockene Aneinanderreihung und Erklärung von ökonomischen Zusammenhängen ist, ist das Buch spannend und interessant. Ich fand es sehr kurzweilig, man kann es an zwei/drei Abenden durchlesen.
Ich muss zugeben, dass mir die Liebesgeschichte sehr gut gefallen hat. Obwohl kitschig und ziemlich an den Haaren herbeigezogen, hat sie mir am Ende doch einige Tränen entlockt (weil es so romantisch war, nicht weil es so traurig war). Naja, und…. (jetzt wird es wieder peinlich)… ich hab mit Julian West wie Hugh Jackman in „Kate und Leopold“ vorgestellt, den perfekten Gentleman, der in unserer Gegenwart landet.
Die Welt scheint auf den ersten Blick perfekt, weil jedes kleinste Detail durchorganisiert ist – die perfekte Planwirtschaft. Alle Sorgen der Menschen sind behoben. Aber ich hab mich manchmal gefragt, wo das Individuum bleibt. Wenn es nur ein Kaufhaus gibt, scheint die Auswahl der zu kaufenden Sachen doch sehr begrenzt zu sein (darüber kann sich nur eine Frau Gedanken machen, oder?). Ich bin in Polen aufgewachsen… in der Schule trug die halbe Klasse die gleichen Socken und die gleichen Pullover, weil es nichts anderes zu kaufen gab (die zweite Hälfte der Klasse hatte Klamotten aus Deutschland). Es gibt nur einen Musiksender und die Nation bestimmt, welche Musik die Menschen hören. Ich möchte nicht so gesteuert werden.
Die Hierarchien haben mich sehr an asiatische Gesellschaft erinnert, die Amelie Nothomb im Buch „Mit Staunen und Zittern“ beschreibt, auch dort fängt jeder ganz unten an, und muss sich mit der Zeit hocharbeiten, eigene Ideen und Individualität sind dort nicht immer willkommen.
Missfallen hat mir die Rolle der Frauen. Während die Männer über ökonomische Errungenschaften der neuen Zeit diskutieren, dürfen die Frauen das Warenhaus vorstellen und und die Blumenarrangements zusammenstellen. Nein, das stimmt nicht ganz, Frauen müssen genau so wie Männer arbeiten, es gibt ein Männercorps und ein Frauencorps für die leichten Arbeiten. Es wird von der Nation vorgegeben, wer welche Aufgaben machen darf, eine Konkurrenz zwischen den Frauen und Männern wird dadurch unterbunden. Und wer entscheidet? – Die Männer, die die obersten Positionen des Staates bekleiden.
Das Buch wurde von einem Pfarrerssohn des 19. Jahrhundert geschrieben, ich vermute, für ihn war das durchaus eine Idealvorstellung.
Für mich war das Buch total faszinierend! Erstens weil die Welt so anders erscheint und manche Ideen so grandios gut sind. Und zweitens, weil ein trockenes und langatmiges Thema hier so anschaulich, spannend und kurzweilig verpackt wurde. Und wenn ich nicht allen „Visionen“ des Herrn Bellamy zustimme, so tat es meinem Lesevergnügen keinen Abbruch.
Die Übersetzung ist übrigens von Clara Zetkin, einer sozialistischen Politikerin und Frauenrechtlerin.

Das Buch erschien im Golkonda-Verlag und kostet 18,90 €.
An dieser Stelle herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar.

Erstellt am Juli 1, 2014

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3 Antworten zu “„Rückblick aus dem Jahre 2000“ von Edward Bellamy”

  1. Moppi sagt:

    Das Buch klingt sehr spannend, kommt sofort auf meine Wunschliste. Ich kann mich noch erinnern, dass ich in der 3.Klasse 1980 einen Aufsatz über das Jahr 2000 schreiben musste und wie wir uns das Leben in der Zukunft vorstellen. Als Kind sind 20 Jahre unfassbar lang und auch unvorstellbar und so war für mich gleich klar, es gibt keine Autos mehr und wir fliegen alle mit kleinen Hubschraubern zur Arbeit. 😉

    Viele Grüße,
    Moppi

  2. Wolfgang Theilig sagt:

    Liebe Burgdame, wären Sie älter und hätten Sie in der DDR gelebt, dann wäre Ihnen dieses Buch bestimmt schon einmal begegnet, denn hier ist es erschienen, sogar in der sehr billigen und preiswerten Heftreihe der „Romanzeitung“.
    Also nichts für ungut, man kann ja nicht alles haben!
    Herzliche Grüße
    Wolfgang

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